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Bessarabien unter russischer Herrschaft
(Teil 1 von 7)
Alexander III.
ach der Ermordung Kaisers Alexander II. bestieg 1881 Zar Alexander III. den Thron. Dieser Herrscher war, ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger, jeder Liberalisierung des Lebens seiner Untertanen feindlich gesinnt.
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts verschlechterte sich die soziale und ökonomische Situation Russlands zusehends. Die panslawistische Bewegung1, die eine Zusammenfassung aller Slawen in einem Kontinentalblock unter russischer Herrschaft anstrebte, setzte sich mehr und mehr durch, und auch bei Hofe herrschte eine den anderen Nationalitäten und Glaubensrichtungen gegenüber feindliche Atmosphäre.
Michail Tarielowitsch Loris-Melikow
Es begann ein Russifizierungsprozess, von dem die deutschen, moldauischen2 und vor allem die jüdischen Minderheiten im Reich betroffen waren.
Schon 1880 hatte der Innenminister Michail Tarielowitsch Loris-Melikow erklärt, dass die Regierungsziele sich auf die vollständige Befreiung Russlands von den ausländischen Elementen richten müssen, und zu diesen „ausländischen Elementen" zählten offenbar auch die russischen Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit.
Der 1. Aufstand des 20. Jahrhunderts
Streik im Zarenreich
Schon in den Jahren 1902/1903 kam es im Zarenreich zu einer mächtigen Streikbewegung. Vor dem Hintergrund der sich dramatisch verschlechternden Lebens-verhältnisse forderten die Demonstranten von dem "unter Gottes Gnaden" herrschenden Zar Nikolaus II. Reformen.
Wer als Aufrührer galt wurde erschossen, in den Kerker geworfen oder nach Sibirien verbannt.
Das erste Pogrom gegen eine ethnische Minderheit
jüdischer Einwohner um 1905
Am 6. April 1903, Ostersonntag, kam es zum 1. Pogrom in Chişinău (deutsch: Kischinau), der Hauptstadt Bessarabiens (heute Hauptstadt der Republik Moldau) und Zentrum des jüdischen Lebens.
Es war das erste Pogrom (Kischinewer Pogrom) gegen eine ethnische Minderheit des 20. Jahrhunderts.
Zwei Monate vor dem Massaker verschwand der 14-jährige christliche Russe Michael Rybachenko, der später ermordet aufgefunden wurde.
Pavel A. Krushewan
Obwohl es klar war, dass der Junge von einem Familienangehörigen ermordet wurde, berichtete die einzige lokale Zeitung Бессарабец (Bessarabetz, was "bessarabisch" bedeutet) des Antisemiten Pavel A. Krushewan über einen möglichen rituellen Hintergrund des Mordes (zur Herstellung von Matzen3) vonseiten der Juden.
Ritualmordlegende
Kischinewer Pogrom
Der Artikel provozierte unter der ungebildeten Bevölkerung der Stadt Unruhe und stärkte schon bestehende Vorurteile und Aberglauben gegen Juden. Es gab Befürchtungen, dass sich ein solcher Mord in Chişinău wiederholen könnte.
In drei Tagen wurden 49 Juden getötet, 586 schwer verletzt und mehr als 1500 Häuser und Geschäfte geplündert und zerstört.
Am 22. August 1905 kam es in Chişinău erneut zu Ausschreitungen, wobei die Polizei das Feuer auf ungefähr 3.000 demonstrierende Landarbeiter eröffnete. Vergleichbar ist diese Tragödie mit dem Petersburger Blutsonntag4, wo am 9. Januar 1905, 500 Demonstranten erschossen und 1.000 verletzt wurden.
Iwan Wladimirow: Petersburger Blutsonntag
Revolution von 1905/1907
Die jahrhundertelange Unzufriedenheit der breiten Masse führte ab Januar 1905 zu erneuten Bewegungen und Aufstände gegen das autokratische konservative Zarenreich und für die Einführung einer konstitutionellen Monarchie.
Wie war es damals in Russland? Die Polizei war den Distriktbeamten verantwortlich, diese dem Gouverneur, der dem Innenminister, dieser dem Zaren - der Zar nur Gott! Es gab keine Wahlen und somit auch kein Parlament. Alle Macht ging vom Zaren aus. Es gab nichts, was an Freiheit der Rede erinnerte; jedes Buch, jede Zeitschrift und Zeitung unterlagen der Zensur.
Die vielen im großen russischen Reich lebenden Nationalitäten mussten eine noch viel grausamere Unterdrückung erleiden. Die Unruhen griffen bald auf die südrussischen Städte über und richteten sich dort besonders gegen die Juden. Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung, kamen immer wieder vor und wurden oft und gern vom zaristischen Regime provoziert, um von den wahren Ursachen der Unterdrückung abzulenken.
Nikolaus II.
Aus Odessa und Akkerman, wo die Juden ihres Lebens und Besitztums nicht mehr sicher waren, flohen diese in die deutschen Kolonien, die ihnen als ruhige Inseln im brandenden Meere erschienen.
Ab 1906 kam Russland allmählich wieder zur Ruhe. Zar Nikolaus II. hatte nachgegeben, nachdem mehr als 1.500 Beamte bis Ende des Jahres 1905 umgebracht worden waren. Im Mai 1905 trat zum ersten Mal in der Geschichte Russlands die 'Reichsduma'6, das russische Parlament, in St. Petersburg zusammen. Von höchster Stelle wurden Freiheit des Redens und des Handelns verkündet; aber leider dauerte das nicht lange und neue absolutistische Bestrebungen setzten ein. 1912 wurde die vierte und letzte Duma gewählt.
Sitzungssaal der Duma im Taurischen Palais
Auch im russischen Oblast (russisch: Provinz) Bessarabien kündigte sich durch Revolten Anfang des 20. Jahrhunderts ein Sturz des Zarenregimes an.
1 Panslawismus = entstand zu
Beginn des 19. Jahrhunderts als romantischer Nationalismus. Sein Ziel war die kulturelle, religiöse und politische Einheit aller
slawischen Völker Europas und bildete somit die ideologische Grundlage für die Feindseligkeit gegenüber der Deutschen in
Russland. Der russische Panslawismus hatte seinen Ursprung in der Glaubensgemeinschaft der orthodoxen Kirche.
Schon im 17. Jahrhundert verbreiteten sich im russischen Zarenreich Gedanken von einer Vereinigung aller slawischen Völker unter
russischer Führung. Vor Ausbruch des Russisch-Türkischen Krieges (1876/77) war der Panslawismus zur bestimmten Ideologie in
Russland geworden, die nach 1880 vom Panrussismus verdrängt wurde, der die Basis für die Russifizierung- und
Unterdrückungspolitik vor allem gegen Polen und Juden, aber auch nicht-orthodoxe Russen und nichtrussische Orthodoxe.
2 moldauische Minderheit = In den moldauischen Schulen und Kirchen wurde die rumänische Sprache verboten; das Priesterseminar in Chişinău wurde geschlossen.
3 Matze = (ungesäuertes Brot) ein dünner Brotfladen,
der von religiösen und traditionsverbundenen Juden während des Pessachfestes gegessen wird. Hergestellt werden sie aus Wasser
und einer der fünf Getreidearten Weizen, Roggen, Gerste, Hafer oder Dinkel ohne Triebmittel.
Matzen werden zur Erinnerung an den Auszug der Israeliten aus Ägypten gegessen. Gemäß der Überlieferung in der Torah blieb
den Israeliten beim Aufbruch keine Zeit, den Teig für die Brote gehen zu lassen (2. Mose 12,33-34: Die Ägypter drängten das Volk,
eiligst das Land zu verlassen, denn sie sagten: Sonst kommen wir noch alle um. 34 Das Volk nahm den Brotteig ungesäuert mit; sie wickelten
ihre Backschüsseln in Kleider ein und luden sie sich auf die Schultern.)
4 Petersburger Blutsonntag = 140.000 Arbeiter zogen am 22. Januar 1905 in einem friedlichen Protest zum Winterpalast des Zar Nikolaus II in Sankt Petersburg, um diesem eine Bittschrift zu überreichen. Die Forderungen dieser Bittschrift waren der Achtstundentag, die Wiedereinstellung entlassener Arbeiter und die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. Als die Wachmänner sich jedoch von einem revolutionären Akt bedroht fühlten, schossen sie wild in die Menge. Dieser Vorfall ist seit dem als "Petersburger Blutsonntag" in die Geschichte eingegangen. Als Folge dieser Tragödie folgte eine landesweite Protestwelle sowie Meutereien bei der Marine und zahlreiche Streiks. So war der Blutsonntag ein entscheidender Faktor zum Ausbruch der russischen Revolution von 1905.
5 Bolschewiki = ist eine ehemalige Bezeichnung für Parteimitglieder der KPdSU (Kommunistische
Partei der Sowjetunion). Der Begriff entstand 1903 auf dem zweiten Parteitag der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands ( SDAPR ) in London .
Die Anhänger Lenins stellten auf diesem Parteitag die Mehrheit (russ. bolschinstwo )
weswegen sie Bolschewiki genannt wurden. Die Minderheit
(russ. menschinstwo )
nannte man Menschewiki.
Die Bolschewiki waren wesentlich
radikaler als die anderen Teile der Partei. Sie strebten den baldigen
Sturz des Zaren und die damit verbundene Einführung des Kommunismus an.
Die Menschewiki verfolgten zwar das selbe Ziel wollten aber erst ausreichende
Reformen einleiten.
Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs verurteilten
die Bolschewiki eine Teilnahme Russlands als imperialistische
Aggression. Sie gewannen stark an Zuwachs als die Truppen des Zaren
an fast allen Fronten Rückschläge hinnehmen mussten.
In
der Oktoberrevolution von 1917 wurden sie die stärkste
Macht im Lande. Der aus dem Exil zurückgekehrte Wladimir Iljitsch
Lenin übernahm
die Führung der Kommunisten. Seine Macht basierte teilweise auf
der Unterdrückung seiner Gegner.
Lew Trotzki, Volkskommissar für das Kriegswesen, formierte
nach dem Friedensvertrag
von Brest-Litowsk, den er als persönliche Niederlage betrachtete, die Rote
Arbeiter- und Bauernarmee mit der er
erfolgreich im russischen Bürgerkrieg (1917/18-1920) gegen die zaristisch-bürgerlichen Weißen,
vorgehen konnte.
Bis 1922 schafften es die Bolschewiki
fast den gesamten Osten des riesigen russischen Reiches zu kontrollieren. Damit
verbunden war der so genannte Kriegskommunismus eine Wirtschaftspolitik
die alle Unternehmen unter staatlicher Kontrolle stellte. Weitere
repressive Maßnahmen führten zu extremen Versorgungsengpässen
und damit auch zu Aufständen innerhalb der Bevölkerung.
Nach 1918 nannten sich die Bolschewiki "Kommunistische Partei und
ab 1925 Kommunistische Partei der Sowjetunion mit dem Anhang
(Bolschewiki). Im eigenen Land nahmen besonders zu Stalins Zeiten
Repressalien gegen die sowjetische Bevölkerung zu. Die Geheimpolizei
unterdrückte jede Opposition und bei Säuberungsaktionen
wurden viele Kritiker und potenzielle Feinde verhaftet und getötet.
Auf diese Art und Weise beherrschten die Kommunistische Partei lange
Zeit das Land.
6 Reichsduma nannte man die gewählte Volksvertretung, die von Nikolaus II. 1905 eingesetzt wurde.
Die 1. Reichsduma, 1906 in indirekten und ungleichen Wahlen entstanden, forderte unter der Führung der konstitutionellen Demokraten (Kadetten) grundlegende Konzessionen vom Zaren und wurde deshalb 1907 durch letzteren aufgelöst.
Die 2. Reichsduma von 1907 setzte sich vorwiegend aus Sozialrevolutionären und Sozialdemokraten zusammen (viele gemäßigte Abgeordnete der 1. Reichsduma waren nach Finnland geflohen und/oder boykottierten die neuen Wahlen). Da die 2. Reichsduma ebenfalls nicht bereit war, die geforderten Konzessionen aufzugeben, wurde auch sie durch den Zaren aufgelöst.
Nach der Einführung eines ungleicheren Wahlrechtes setzte sich die 3. Reichsduma (1907-12) aus gemäßigten Kräften zusammen und überstand als erste eine ganze Wahlperiode. Kooperativer, konnte sie einige wenige Reformen gegen den Zaren durchsetzen (Agrarreformen, Grundlagen für eine allgemeine Schulpflicht).
Die 4. Staatsduma (1912-17) konnte ihre Tätigkeit schließlich kaum noch wahrnehmen, da die Regierung praktisch jegliche Zusammenarbeit mit ihr ablehnte.