Der Schießbefehl an der Westgrenze
Günter Litfin, 24 Jahre alt,
das erste Opfer,
erschossen am 24. August 1961
Die militärisch gesicherte Grenzanlage zu überwinden, war ein lebensgefährliches Unterfangen. Die innerdeutsche Grenze wurde eine Todesfalle. Die Soldaten erhielten den Befehl auf alle zu schießen, die versuchten die Grenze zu überschreiten.
Details über die Anwendung von Schusswaffen an der innerdeutschen Grenze waren bis 1982 "streng vertraulich".
Diese Anweisungen bestanden in unterschiedlicher Form von 1960 bis 1989. Formal legalisiert wurde die Praxis erst am 25. März 1982 durch § 27 des Grenzgesetzes.
Oft wird die Existenz von Schießbefehlen von Angehörigen und Verfechtern des DDR-Regimes geleugnet.
Der Schießbefehl vom 6. Oktober 1961 lautete:
l'ordine di sparare del 6/10/1961
.. die Grenzer sind verpflichtet die Schusswaffe an der Staatsgrenze West und Küste in folgenden Fällen anzuwenden:
zur Festnahme, Gefangenahme oder zur Vernichtung bewaffneter Personen oder bewaffneter Banditengruppen, die in das Gebiet der DDR eingedrungen sind bzw. die Grenze zu der Westzone zu durchbrechen versuchen, wenn sie die Anforderung zum ablegen der Waffen nicht befolgen oder sich ihrer Festnahme oder Gefangennahme durch Bedrohung mit der Waffe oder Anwendung der Waffe zu entziehen versuchen.
Peter Fechter, 17 Jahre alt,
einer der ersten Opfer,
verblutete an der Mauer
am 17. August 1962
Auch für den Fall unbewaffneter Flüchtlinge musste nach Zuruf und Warnschuss sofort scharf geschossen werden. Vermutete man Bewaffnung beim Flüchtling, das konnte schon ein Haken zum Überwinden des Stacheldrahtes sein, lautete der Befehl ausdrücklich auf „Vernichtung der Person“.
Wer sich nicht an den Befehl hielt, wurde als Verräter angesehen. Dieser Befehl wurde im Lauf der Jahre abgewandelt. Die Schüsse der Grenzer hörten aber bis zum Mauerfall im Jahr 1989 nicht auf.
In einem Befehl der DDR-Staatssicherheit vom 1. Oktober 1973, der im Archiv der Magdeburger Außenstelle der Stasi-Unterlagen-Behörde entdeckt wurde, heißt es:
„Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutze gemacht haben.“
Chris Gueffroy, 20 Jahre alt,
das letzte Maueropfer;
starb am 5. Februar 1989,
neun Monate vor dem Mauerfall
Das Grenzgesetz von 1982 wurde einstimmig von der damaligen Volkskammer beschlossen. Grenzer waren auch danach weiterhin berechtigt von der Schusswaffe „als äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung“ Gebrauch zu machen, obwohl die DDR-Führung stets behauptete, es habe keinen „Schießbefehl“ gegeben.
Täglich wurde den Grenzposten auf Grund dieser Gesetzesvorlage ein mündlicher Befehl erteilt, die sogenannte Vergatterung1. Den Soldaten wurde mitgeteilt, Grenzverletzer aufzuspüren, festzunehmen oder zu vernichten.
Vor hohen Feiertagen oder Staatsbesuchen wurde der Einsatz der Schusswaffe ausdrücklich untersagt, um eine negative Westpresse zu vermeiden.
Von West-Berlin wurde die Grenze von der West-Berliner Polizei und alliierten Militärstreifen beobachtet.
Westberlin gedenkt der Maueropfer, 1982
Von 1949 bis 1989 flohen zirka 3 Millionen DDR-Bürger in den Westen, Grenzetruppen inbegriffen.
Zirka 870 Menschen fanden bei Fluchtversuchen den Tod. Da die Behörden der DDR die Todesfälle verheimlichten, ist davon auszugehen, dass es mehr Opfer gibt als offiziell bekannt ist.
Die bundesdeutsche Statistik registrierte bis 1988 knapp 40.000 "Sperrbrecher", so nannte der Westen jene Ostdeutschen, die nach dem 13. August 1961 unter dem Einsatz ihres Lebens die Flucht in den Westen schafften. Über 200.000 nutzten etwa Kurzbesuche im Westen, um sich abzusetzen, oder wurden von der Bundesregierung freigekauft.
1988 - der misslungene Fluchtversuch
Ein misslungener Fluchtversuch am Berliner Übergang Chaussee-Straße im Jahr 1988 wurde heimlich fotografiert.
Der letzte bekannte Schusswaffen-gebrauch an der Berliner Mauer beendete am Grenzübergang Chausseestraße den Fluchtversuch zweier Jugendlicher.
das Brandenburger Tor
Das Verteidigungssystem der DDR wurde von 1961 bis zum Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 ständig erweitert. Die Anlagen der Berliner Mauer bestanden nach Angaben des Ministeriums für Staatssicherheit im Frühjahr 1989 aus:
- 156,4 km Grenzbefestigung um West-Berlin zwischen 3,40 und 4,20 m Höhe
- 43,44 km Grenzbefestigung zwischen Ost- und Westberlin (Sektorengrenze)
- 37,01 km Grenzbefestigung der unbewohnten Gebiete in Ostberlin
die Berliner Mauer - 111,9 km Beton- und Steinmauern und 44,5 km Metallgitterzaun
- 68,42 km Streckmetallzaun mit einer Höhe von 2,90 m als „vorderem Sperrelement“
- 0,5 km Reste von Häuserfronten, Grundstücksmauern
- 58,95 km Grenzmauer in Plattenbauweise mit einer Höhe von 3,40 m
- 161 km Lichttrasse
- 113,85 km Grenzsignal- und Sperrzaun (GSSZ)
die Berliner Mauer - 127,5 km Kontakt- und Signalzaun
- 186 Beobachtungstürme (302 rund um West-Berlin)
- 259 Hundelaufanlagen2
- 20 Bunker
das Verteidigungssystem der DDR
1 Vergatterung = formelle Belehrung der Wache vor Antritt des Dienstes und Unterstellung unter das Kommando
2 Hundelaufanlage = Hunde waren am Todesstreifen stationiert, um Flüchtlinge aufzuspüren. Innerhalb des Todesstreifens war Draht gespannt, an dem die Hunde an der Hundeleine befestigt wurde. Die Hunde hatten einen ungefähren Bewegungsradius von 20 - 30 Metern. Sobald sie einen Flüchtling witterten, eilten die Grenzer durch das Bellen herbei.